Berlin am 31.Januar 1944 Ein Bericht von Pater Wehner, SJ

Die Liebfrauenschule am Lietzensee in Berlin -Charlottenburg. Königsweg 23,später Wundstr.57 ehemaliger Besitz des jüdisch-russ. Fabrikanten MARJANS 1926 erworben von der Kongreggation der Schwestern U.L. Frau Mülhausen 1927-1941 Schule Lyzeum- Frauenschule-Kindergärtnerinnen-Seminar Nach Zwangsschließung durch die NS- Regierung Damenheim durch Bomben zerstört

Der letzte Großangriff in der Nacht auf den 31. Januar, von Sonntag auf Montag, hat wieder viel Leid gebracht. Um 19:30 kam die Warnung, um 20:30 schon die Vorentwarnung. Nach dem unheimlich nahen Pfeifen der Bomben wussten wir schon, dass draußen wieder allerlei zu erwarten sein musste. Da kam noch vor der endgültigen Entwarnung unser Pater Kuratus, der am 16.12.1943 wegen Platzmangels und wegen der Zerstörung seiner Kirche ins Frauenbundhaus hatte ziehen müssen, atemlos an: „Kommen Sie, kommen sie doch rasch! Die Schwestern U.L.Frau sind in ihrem Keller verschüttet, eine Bombe muss schräg hinein gegangen sein.“
Wir packten, noch in voller Einsatzausrüstung, Axt, Säge, Brecheisen, Schaufel usw. Aber als wir in die Kellertür kamen, krachte es noch von allen Seiten. Wir meinten, es seien Blindgänger, die jetzt noch im Park und auf der Straße explodierten und stutzen einen Augenblick (in Wirklichkeit waren es nur, wie wir nachher erfuhren, die Detonationen eines kleineren Munitionsstapels). Nach einmal fragte ich darum: „Was ist nun eigentlich los, sind Sie auch sicher?“ „Ja, die Schwestern rufen ja unten in den Trümmern.“ Also zu, die können wir auf keinen Fall ohne Hilfe liegen lassen. Zuerst drei Freiwillige, die anderen kommen nach der vollen Entwarnung sofort nach. Durch den Lietzenseepark ging es im Eilschritt zu dem 12 Minuten entfernt liegenden Haus der Schwestern. Als wir oben auf die Straße kamen, trug man schon zwei Tragen heraus. Es waren Sr. M. Paula und eine Pensionärin. Ich ging rasch hin, nannte meinen Namen und gab die Generalabsolution. Beide waren in einem weiter nach Westen anschließenden Keller gewesen. Das war ihre Rettung. Der Luftdruck hatte sie etwas unsanft umgeworfen, aber im großen Ganzen noch gelinde behandelt. Ich staunte, wie froh sie waren, eine bekannte Stimme zu hören und zu erfahren, dass Hilfe unterwegs sei. Nun kam das schwerste Stück: hinunter in den Keller; mir graute es, aber ich dachte daran, wie die ersten Christen ihre Märtyrer geborgen und in heiliger Ehrfurcht vor diesen zerfetzten Leibern gestanden haben, und dann fasste ich mir ein Herz. Wir kamen die Treppe hinunter durch einen Gang zu dem eigentlichen Luftschutzkeller. Es war ein Raum von vielleicht 7 x 5 qm mit 3 Eingängen. An den 2 vorderen lagen die ersten Toten und Verwundeten, verklemmt in Steine, Schutt, Holz, Stühle usw… Es blieb uns nichts anderes übrig, als Stein für Stein abzuräumen, die Holzstücke herauszuziehen, den Schutt mit kleinen Schaufeln in Eimer zu schippen und Eimer für Eimer hinauszureichen. Neben unserer Einsatzmannschaft von Canisius (Jesuitenkolleg) half die Feuerwehr,  und dann traf bald auch ein Kommando der Luftwaffe ein. Ein fieberhaftes, planvolles Arbeiten setzte nun ein. Das Bild wurde unter dem Licht der Feuerfackeln und der vom Altar heruntergeholten Kerzen klarer, aber auch grausamer. Die Decke des zum Frauenbundhauses zu liegendem Eckzimmers und des Vestibüls war heruntergesackt und hing, wegen der Drahtverflechtung doch noch zusammenhaltend, in einem großen Stück schräg nach der Südseite herunter. Von darüber waren aus dem zerrissenen Haus Teile von Steinblöcken, Möbel und wer weiß was niedergestürzt. Im Keller selbst lagen schief über die eine Hälfte hinweg eine große viereckige Steinsäule und einige zur stärkeren Versteifung der Decke eingefügte schwere Kiefernstämme, darunter neun Schwestern und noch zwölf Pensionärinnen. Von verschiedenen Seiten her kam noch ein leises Hilferufen und Stöhnen.
In solcher Situation hilft keine Sentimentalität, sondern nur Zupacken. Wir räumten auf; ein unendlicher Staub, aber da der Keller weit nach oben aufgerissen war, verlor er sich trotz des ständigen neuen Aufwirbelns beim Graben in die dunkle Nacht hinein. Überall Hindernisse, kein großzügiges Durchgreifen war zunächst möglich. Immer wieder rief es: „Licht, Drahtschere, Säge, Stricke für große Blöcke, Eimer usw.“. Da bin ich gerade mitten auf dem Schutt neben zwei Damen, die schon zu einem Drittel freigemacht waren, als mich plötzlich eine Schwester anrief: „Ach, Pater Wehner!“. Sie hatte mich an der Stimme erkannt denn mit dem Kopf lag sie noch auf dem in das Gesicht herabgerutschten Stahlhelm. Selten hat mich etwas so ergriffen wie dieser Zuruf. Ich hob den Kopf aus dem Lederzeug des Stahlhelms heraus, machte rasch Schulter und Rücken frei und fragte: „Wie ist es denn mit ihren Füßen?“ Die Schwester (Theodorika) war in kniender Stellung zusammen gesunken, als der entsetzliche Stoß von der Ostseite des Hauses herkam, und steckte, wie wir nachher sahen, unter den Stühlen von zwei anderen, an deren Befreiung mühsam andere schon arbeiteten. Fast zwei Stunden hat es gedauert, bis wir durchkamen. Wir mussten erst alles davorliegende Gerümpel ausräumen. Drei andere, von denen nur eine sich noch regte, herauslösen, bis wir endlich auch die Füße frei bekamen. Eine Schwester aus der Ahorn-Allee hatte ich inzwischen zu ihr rufen können. Leider ist Sr. M. Theodorika doch noch an den schweren inneren Verletzungen gestorben.
So ging es weiter bis 13:30, dann waren alle geborgen. Sechs Schwestern tot, darunter die Oberin M. Corda, vier lebten, davon zwei schwerverletzt, Sr. M. Theodorika (innere Verletzungen) und Sr. M. Coelestis, die frühere Direktorin der Schule (Oberschenkelbruch, Unterarmbruch, Zerquetschungen der rechten Hand), zwei nur leichtverletzte Schwestern, Theodorika und Paula. Dazu kamen noch elf Damen.
Als wir nach 14:00 müde und verstaubt nach Hause gingen, brannte am Kaiserdamm noch lichterloh das Feuer eines anderen Hauses und leuchtete über die stolze breite Fläche der West-Ost-Achse.
In meiner Seele war zutiefst nicht Angst und Grauen, sondern ein wehes Trauern darüber, dass wir in einer Welt leben, in der Menschen ihren Mitmenschen ein solches Schicksal bereiten. Gott hat es nicht gewollt, er hat es nur zugelassen, aber auch das nur für kurze Zeit. Über solchem Geschehen lässt Er ein wunderbares Licht leuchten, wie in der Nacht des Schreckens die Kerzen vom Altar der Kapelle über der Trümmerstätte des Kellers still und ruhig geleuchtet haben: Auferstehung, Neuwerdung in Christus Jesus. Wer das zu sehen vermag, der faltet ehrfürchtig und gläubig auch in solchen Nächten die Hände vor Gottes erlösender Weisheit, Liebe und Macht. Näher, mein Gott, zu dir!
Für die Toten habe ich am nächsten Morgen in der Ahorn-Allee das erste Requiem gelesen. Wir hatten noch das traurige Bild dieser Erde vor Augen, die äußere weniger schöne Seite des erschütternden Geschehens. Diejenigen aber, für die wir beteten, waren wohl schon in ein reineres Licht eingegangen, als die Kerzen des Altares es ausstrahlten. Sie sind gut vorbereitet gewesen. Wie oft haben sie die typische Angst beim Herabsinken der Dämmerung ausgestanden und sich mit ihrem Heiland am Ölberg sühnend vereinigt; wie oft haben sie immer wieder unverzagt an ihrem ramponierten Haus herumgeflickt; wie mutig für den Herrgott und seine Sache auf dem schweren Posten ausgeharrt. Als all die Trümmer stürzten und der Keller aufriss, da war, gläubig gesehen, ja nichts anderes gekommen als die große Stunde, da für sie der Himmel sich öffnete, der Bräutigam kam und sie aus der Nacht der Erde in seinen Hochzeitssaal hinüberrief. Am Tage vorher hatte ich noch ihre Beichten gehört, am Morgen ihnen zum letzten Mal die Heilige Messe gelesen. Fromme Weihnachtslieder hatten wir dabei gesungen, vorn stand noch die sehr geschmackvolle Krippe, da kniete nur zwischen Blumen und Felsen groß die Mutter Gottes vor dem kleinen Jesuskind, das vor zwei Jahrtausenden zu uns gekommen ist, um uns Menschen den Weg in den Frieden der Ewigkeit frei zu machen. Das Evangelium vom Sturm auf dem Meere und der vom Heiland gebotenen Ruhe war am Morgen gelesen worden.
Ein ganz kurzer Schrecken, von dem die meisten wohl gar nichts gemerkt haben, und dann standen auch sie nach den Stürmen der letzten Wochen in der Feierstille der Ewigkeit, am Beginn einer nie endenden Freude. Das Öl hatte auf ihren Lampen gebrannt, den Rosenkranz betend waren sie ihrem göttlichen Bräutigam entgegen gegangen. Eine Schwester hatte ihn noch still und friedlich in der Hand. Ich habe ihn ehrfürchtig heraus genommen und einer Schwester aus einem anderen Haus zum Aufgeben gegeben.
Andere haben noch unter den Trümmern ihre Gelübde erneuert. Eine von den Damen betete, während wir gruben, noch immer wie in einem ständigen Stoßgebet das Gloria in excelsis… laudamus te… benedicimus te…Jesu Christe – und nun auch sie schon in der „Gloria Dei Patris.“


(Dieser Artikel wurde zufällig in alten Unterlagen der Liebfrauenschule von Sr. M. Mathilde gefunden und zur besseren Lesbarkeit von mir abgeschrieben. Sr. M. Adelgondis fand im Archiv Aufzeichnungen von Sr. M. Thiatilde, Coesfeld, mit Fotos von dem Haus am Lietzensee und eine Beschreibung des Hauses mit der Überschrift: Die Liebfrauenschule am Lietzensee in Berlin-Carlottenburg, Königsweg 23, später Wundtstraße 57)

Mülhausen, 02.02.2020

Sr. M. Magdalena Dautzenberg